Estland: Das große, kleine Vorbild für alle digitalen Gesellschaften
Giga-Gesellschaft, das ist das neue Schlagwort, mit dem in Deutschland das Volk auf digitale Lebenswege vorbereitet werden soll. Schnelles Internet soll es bald dank VDSL geben und Kabelnetzanbieter sind drauf und dran, überall Anschlüsse mit bis zu 400 MBit/s im Downstream anzubieten. WLAN in Cafés, Restaurants und Einkaufspassagen? Auch daran wird mit Hochdruck gearbeitet; selbst in einigen Flugzeugen von deutschen Airlines ist während des Flugs das Surfen möglich. Doch sind das alles schon Indikatoren für eine funktionierende(!) Digital-Gesellschaft? Wenn man Deutschland und andere Staaten mit Estland vergleicht, dann wohl eher nicht. Es gilt noch viel zu lernen.
„Digital“ heißt nicht, dass man sein Leben aufgibt
Bereits nicht mehr so häufig im Gebrauch, vor einigen Jahren aber noch als Abschreckung vor der digitalen Welt unfreiwillig im Umlauf gewesen: das Wort „Killerspiele“. Jugendliche, die vor dem Rechner sitzen und zocken, waren schnell zu einer Art Feindbild verkommen. Erwachsene vor dem Rechner wurden maximal von RTL und dann auch nur im negativen Zusammenhang thematisiert. Erst mit dem Aufkommen von Smartphones und Tablets ist das digital geführte oder zumindest digital begleitete Leben für die breite Masse attraktiv geworden. Es wurde früh die Chance verpasst, die virtuelle Welt positiv mit der analogen zu verknüpfen.
Estland ist seit den 1990ern auf der digitalen Überholspur
Vielleicht ist es die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, welche ab 1991 in Estland dazu geführt hat, dass eine liberale Demokratie mit jungen Politikern und Affinität zur digitalen Entwicklung entstehen konnte. In Deutschland gab es zwar auch einen Zuwachs von Ost, aber weniger Ambitionen zur generellen Erneuerung, da der Löwenanteil der Republik ja schon das westliche Leben kosten durfte. Und so überholte Estland alle. Heute sind digitale Strukturen nicht nur in der Gesellschaft so selbstverständlich wie das kostenlose WLAN, das landauf, landab vorhanden ist – sondern auch eine digitale Politik, besser gesagt: eine digitale Demokratie.
„Digital“ kann auch Vereinfachung und Lebensqualität bedeuten
Sich in der virtuellen Welt zu verlieren, das passiert Menschen, die sich entweder aufgegeben haben oder die einfach suchtanfällig sind. Der Großteil der Gesellschaft kann sich allerdings das Leben mit digitalen Helfern effektiv erleichtern. In Estland wälzen Politiker keine Aktenberge; sie haben Archive auf dem Tablet. Die Wahlbeteiligung wird nach oben geschraubt, indem Wahlen per Mausklick eine vertrauliche und sichere Angelegenheit sind. Hinzu kommt die digitale Unternehmensgründung – die Rekordzeit dafür liegt bei unter 20 Minuten; und die digitale Unterschrift ist für Geschäftsabschlüsse legitimiert. Zudem wird das Programmieren in Grundlagen schon vor der Sekundarstufe I gelehrt.
Was wir von Estland im Hinblick auf digitale Demokratie lernen können
Die Technik wäre auch hierzulande für alle denkbaren Bereiche, die in Estland längst zu einer digitalen Giga-Gesellschaft geführt haben, vorhanden. Nur scheitert es an der Kommunikation und Aufklärung. Auch die Sicherheitsbedenken beispielsweise bei Wahlen über das Internet werden nicht ernsthaft behandelt. Könnte ein sicheres System installiert und dessen Seriosität ordentlich vermittelt werden, dann würden viel mehr Menschen von 18 bis weit über 65 auch über das Netz ihre Stimme abgeben. Es bedarf also einer Cyber-Security und einem Cyber-Verständnis.